8
Die Morgendämmerung kroch schon den Horizont hinauf, als der Lastwagen aus Prag in die Auffahrt eines abgezäunten, schwer gesicherten Herrenhauses in einem Außenbezirk von Berlin einfuhr.
Der Dunkle Hafen wurde von einem Stammesvampir namens Andreas Reichen geleitet, einem Zivilisten, der ein verlässlicher Verbündeter des Ordens war, seit er den Kriegern bei der Entdeckung der Höhle in den Bergen vor einigen Monaten zu Hilfe gekommen war. Rio hatte ihn in diesem Februar nur kurz getroffen, aber der Deutsche begrüßte ihn wie einen alten Freund, als er ihm die Heckklappe öffnete.
„Willkommen“, sagte er und warf einen unruhigen Blick zum Himmel, der sich über ihnen langsam rosa färbte. „Ihr Timing könnte nicht perfekter sein.“
Reichen trug einen perfekt sitzenden Maßanzug und ein makellos gebügeltes weißes Hemd, am Kragen offen. Mit seinem dichten kastanienbraunen Haar, das ihm lose auf die Schultern fiel und dessen perfekte Wellen seine markanten Züge betonten, wirkte Reichen so, als käme er gerade vom Fotoshooting eines angesagten Designerlabels.
Er hob unmerklich eine dunkle Augenbraue, als er Rios vernachlässigtes Äußeres registrierte, blieb aber trotzdem der vollkommene Gentleman. Als Rio vom Lastwagen geklettert war, hielt Reichen ihm mit einem Nicken die Hand hin. „Ich hoffe, es gab auf der Fahrt keine Schwierigkeiten?“
„Keine.“ Rio schüttelte dem anderen Vampir kurz die Hand. „An der deutschen Grenze wurden wir kurz angehalten, aber sie haben den Laster nicht durchsucht.“
„Eine reine Frage des Geldes“, sagte Reichen und lächelte liebenswürdig. Er sah an Rio vorbei in den dunklen Anhänger, wo Dylan Alexander auf dem Boden lag. Sie hatte sich auf der Seite zusammengerollt und schlief friedlich, den Kopf auf ihrem Rucksack gebettet. „Ich nehme an, Sie haben sie in Trance versetzt?“
Rio nickte. Etwa eine Stunde nach der Abfahrt hatte er sie außer Gefecht gesetzt, als ihre endlosen, bohrenden Fragen und das Schlingern des Lasters ihm zu viel geworden waren. Obwohl er früher am Abend schon Nahrung zu sich genommen hatte, verlangte sein Körper nach mehr, er war einfach noch nicht wieder völlig auf dem Damm. Von seinen anderen Problemen ganz zu schweigen.
Den Großteil der über fünfstündigen Fahrt hatte er gegen Schwindel und Ohnmacht angekämpft. Er konnte nicht riskieren, dass die Frau, die er gerade entführt hatte, seine Schwäche bemerkte. Also hatte er sie für die Fahrt in einen leichten Dämmerschlaf versetzt, bevor sie wieder auf den Gedanken kam, unterwegs zu versuchen, ihn zu überwältigen und zu fliehen.
„Sie ist attraktiv“, sagte Reichen, eine beiläufige Bemerkung, die der jungen Frau auch nicht annähernd gerecht wurde. „Warum bringen Sie sie nicht rein? Ich habe oben ein Zimmer für sie herrichten lassen. Auch für Sie. Dritter Stock, am Ende des Korridors links.“
Als Rio einige Dankesworte murmelte, winkte Reichen ab. „Natürlich können Sie bleiben, solange Sie wollen. Wenn Sie etwas brauchen, fragen Sie nur. Ich komme mit Ihren Sachen nach, sobald ich meinen tschechischen Freund für diesen Gefallen entschädigt habe.“
Als der Deutsche nach vorne zur Fahrerkabine des Lasters ging, um den Fahrer zu bezahlen, kletterte Rio wieder hinein, um seine schlafende Gefangene zu holen. Sie regte sich leicht, als er sie auf die Arme hob und nach draußen trug. Er ging eilig auf das Anwesen zu und die wenigen Stufen der Eingangstreppe hinauf, die in das opulent ausgestattete Foyer führte.
Keine Bewohner des Dunklen Hafens waren zu sehen, auch wenn es um diese Zeit nicht ungewöhnlich gewesen wäre, einigen der Zivilvampire oder ihren Gefährtinnen zu begegnen, die das weitläufige Anwesen gemeinschaftlich bewohnten. Vermutlich hatte Reichen dafür gesorgt, dass das Haus bei Rios Ankunft ruhig war und es keine neugierigen Augen und Ohren gab. Ganz zu schweigen davon, dass die Zivilisten davor geschützt werden mussten, von jemandem wie Dylan Alexander identifiziert zu werden.
Einer gottverdammten Reporterin.
Rio presste beim Gedanken daran, welchen Schaden die Frau in seinen Armen anrichten konnte, fest die Zähne zusammen. Mit nur einem Federstrich - oder ihrer Computertastatur - konnte sie diesen Dunklen Hafen und die etwa hundert anderen, die es in Europa und den Vereinigten Staaten gab, in schreckliche Gefahr bringen. Wenn die Menschheit erst über handfeste Beweise verfügte, dass Vampire unter ihnen lebten, waren ihnen Verfolgung, Unterwerfung und letztendlich die vollständige Vernichtung sicher. Abgesehen von diversen Vampirlegenden, die zumeist sachlich ungenau waren und heutzutage vom modernen Menschen als Fiktion abgetan wurden, hatte der Stamm sich über tausende von Jahren vor der Entdeckung verborgen gehalten.
Nur so hatte er so lange überleben können.
Aber jetzt hatte er all das vielleicht durch seine Fahrlässigkeit - seine Schwäche - in einem einzigen unvorsichtigen Augenblick zunichte gemacht. Er musste es wieder in Ordnung bringen, tun, was immer nötig war, um die blutende Wunde zu versorgen, die diese Frau dem Vampirvolk mit ihrer Geschichte schlagen konnte.
Rio trug sie durch das leere Foyer und die massive Treppe hinauf, die im mittleren Teil des Herrenhauses zu den oberen Stockwerken führte. Im dritten Stock angekommen, folgte er dem mit Walnussholz getäfelten Gang bis ganz ans Ende und öffnete die Tür des Gästezimmers auf der rechten Seite. Drinnen war es dämmerig; wie bei jedem Wohngebäude der Dunklen Häfen waren die Fenster mit elektronisch gesteuerten Blenden verdunkelt, die die UV-Strahlung und das tödliche Sonnenlicht abblockten.
Rio trug Dylan ins Zimmer und legte sie auf das riesige Himmelbett.
Sie wirkte so gar nicht gefährlich, wie sie sich auf der weichen, seidenbezogenen Matratze zurechtkuschelte. Unschuldig sah sie aus, fast schon engelhaft in ihrer Ruhe, ihre Haut so rein wie Milch, bis auf den Regen winziger Sommersprossen, die sich über ihre Wangen und ihren zierlichen Nasenrücken zogen. Ihr langes rotes Haar fiel ihr um Kopf und Schultern wie ein feuriger Glorienschein. Rio konnte nicht widerstehen, er berührte eine der Strähnen, die über ihre sahnefarbene Wange gefallen war. Sie blieb an seinen schwieligen Fingern hängen, ein so dunkler und schmutziger Kontrast gegen diese kupferfarbene Seide.
Er hatte kein Recht, sie zu berühren - keinen guten Grund, sich diese wunderschöne Locke durch die Finger gleiten zu lassen und die Festigkeit zu bewundern, die sich in dieser faszinierenden Weichheit verbarg.
Er hatte überhaupt keinen Grund, sich zu ihr hinunterzubeugen, wie sie so dalag, nur weil er sie in diesen Zustand versetzt hatte, und ihren wunderbaren Duft einzuatmen. Speichel schoss ihm in den Mund, als er bewegungslos über ihr kauerte, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem Hals entfernt. Sofort erwachte sein Durst, zusammen mit heißer, anschwellender Begierde.
Madre de Dios.
Hatte er wirklich denken können, dass sie ihm in diesem Zustand nicht gefährlich werden konnte?
Wieder falsch, dachte er und zuckte von der Bettkante zurück, als ihre Augenlider sich zu regen begannen. Sie kam wieder zu sich. Die betäubende Trance begann nachzulassen, und sobald Rio nicht mehr im Zimmer wäre und die Wirkung aufrechterhielte, würde sie völlig verschwinden.
Wieder regte sie sich etwas, und er wandte sich rasch von ihr ab. Jetzt musste er schleunigst raus hier, bevor die nur allzu offensichtliche Präsenz seiner Fangzähne ihn eindeutig verriet.
Als er aufblickte, sah er Andreas Reichen, der vor der offenen Zimmertür im Gang stand. „Halten Sie das Zimmer für angemessen, Rio?“
„Ja“, erwiderte er und stapfte hinüber, um Dylans Rucksack und Handtasche von dem Deutschen in Empfang zu nehmen. „Die werde ich erst einmal selbst behalten.“
„Natürlich. Wie Sie möchten.“ Reichen trat zurück, als Rio in den Gang hinaustrat und die Tür des Gästezimmers hinter sich schloss. Der Deutsche reichte ihm einen Schlüssel für das Türschloss unter dem antiken Kristallknauf. „Die Fensterblenden werden zentral gesteuert, und die Glasscheiben sind über die Alarmanlage gesichert. Draußen auf dem Grundstück des Anwesens sind überall Bewegungsmelder installiert, und das gesamte Grundstück ist eingezäunt. Aber diese Sicherungsmaßnahmen wurden getroffen, um Menschen vom Betreten unseres Grundstücks abzuhalten, nicht, um sie einzusperren. Wenn Sie denken, dass bei der Frau Fluchtgefahr besteht, kann ich einen Wachtposten an die Tür beordern ...“
„Nein“, sagte Rio, als er den Schlüssel im Schloss drehte. „Es ist schon schlimm genug, dass sie mich identifizieren kann. Je weniger Stammesangehörige wir mit hineinziehen, desto besser. Sie fällt unter meine Zuständigkeit. Ich werde dafür sorgen, dass sie bleibt, wo sie ist.“
„In Ordnung. Ich habe die angrenzende Suite für Sie herrichten lassen.
Im Schrank finden Sie etwas Frisches zum Anziehen. Bedienen Sie sich bei allem, was Sie brauchen. In der Suite gibt es auch ein Bad und eine Sauna, wenn Sie sich, ähm, etwas frisch machen möchten.“
„Gut.“ Rio nickte. Ihm dröhnte immer noch der Kopf von der langen Fahrt auf der Ladefläche des Lastwagens. Sein Körper war angespannt und unruhig, ihm war heiß, und das konnte er weder auf die Fahrt noch auf seinen instabilen Gemütszustand schieben. Hinter seinen geschlossenen Lippen fuhr er mit der Zunge über seine immer noch ausgefahrenen Fangzähne.
„Eine Dusche könnte ich brauchen.“
Am besten eine eiskalte.
Wenn Dylan schon verwirrt gewesen war, bevor sie und ihr Entführer Prag verlassen hatten, so wurde die Sache nun, nachdem sie angekommen waren - sie konnte nur annehmen, dass sie irgendwo in oder um Berlin waren -, nur noch abstruser. Als sie mitten in einem riesigen, seidenbezogenen Bett in einem abgedunkelten Zimmer erwachte, das aussah wie eine europäische Luxusunterkunft, fragte sie sich, ob sie das Ganze nicht einfach nur geträumt hatte.
Wo zur Hölle war sie? Und wie lange war sie schon hier?
Obwohl sie sich ungewöhnlich wach und munter fühlte, waren ihre Sinne seltsam betäubt, es fühlte sich an, als wäre ihr Kopf in eine dicke Watteschicht verpackt.
Vielleicht träumte sie immer noch.
Vielleicht war sie immer noch irgendwo in Prag, und nichts, woran sie sich erinnerte, war wirklich geschehen. Dylan knipste ein Nachttischlämpchen an, stand dann vom Bett auf und ging zu den hohen Fenstern auf der anderen Seite des luxuriös ausgestatteten Zimmers hinüber. Hinter den edlen Vorhängen und Gardinen war das Glas von einer passgenauen Sonnenblende bedeckt. Sie hielt Ausschau nach einer Zugleine oder irgendeinem anderen Mechanismus, um sie hochzuziehen, aber sie konnte nichts finden. Die Sonnenblende war vollkommen unbeweglich, als wäre sie über dem Fenster festgeschraubt.
„Die Blende ist elektronisch gesteuert. Von hier werden Sie sie nicht öffnen können.“
Erschrocken wirbelte Dylan beim Klang der tiefen Männerstimme, die ihr mittlerweile vertraut war, herum.
Er war es. Er saß auf einem zierlichen antiken Stuhl in der gegenüberliegenden Zimmerecke. Sie erkannte die unverwechselbare dunkle Stimme mit dem südländischen Akzent, aber der Mann, der sie aus dem Schatten anstarrte, ähnelte in nichts mehr dem verdreckten, zerlumpten Irren, den sie zu sehen erwartet hatte.
Nun war er sauber und trug frische Sachen - ein schwarzes Hemd mit aufgerollten Ärmeln, schwarze Hosen und Slipper, die vermutlich italienisch waren und sündhaft teuer aussahen. Sein dunkles Haar glänzte frisch gewaschen. Nun hingen ihm keine verdreckten Zotteln mehr schlaff ins Gesicht, sondern die glänzenden espressobraunen Wellen waren nach hinten gestrichen und betonten die ungewöhnliche Topasfarbe seiner Augen.
„Wo bin ich?“, fragte sie und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Was ist das hier? Wie lange sitzen Sie schon da und beobachten mich? Was zur Hölle haben Sie mit mir gemacht, dass ich mich kaum noch daran erinnere, wie ich hierhergekommen bin?“
Er lächelte, aber freundlich wirkte es nicht. „Kaum wach und schon wieder geht die Fragerei los. Als Sie geschlafen haben, waren Sie pflegeleichter.“
Dylan hatte nicht vor, sich deshalb beleidigt zu fühlen. „Warum lassen Sie mich dann nicht einfach gehen, wenn ich Ihnen so sehr auf die Nerven gehe?“
In seinen Mundwinkeln zuckte es ein wenig, was die grimmige Linie seiner Lippen etwas weicher machte. Herr im Himmel, wenn die Narben nicht wären, die sich von der linken Schläfe bis zum Kinn hinunterzogen, wäre er wirklich eine Augenweide. Er musste wahnsinnig gut ausgesehen haben, bevor irgendein grauenhafter Unfall ihn so entstellt hatte „Ich täte nichts lieber, als Sie gehen zu lassen“, sagte er. „Nur leider liegt die Entscheidung, wie weiter mit Ihnen verfahren wird, nicht allein bei mir.“
„Bei wem dann? Dem Mann, mit dem Sie vorhin im Gang geredet haben?“
Sie war nur halb bei Bewusstsein gewesen, aber doch wach genug, um die beiden Männerstimmen hören zu können, als sie ins Zimmer gebracht worden war - die eine gehörte zu dem Mann, der sie jetzt wütend anstarrte, die andere dem Akzent nach eindeutig zu einem Deutschen. Sie sah umher auf die üppige Ausstattung, die antiken Möbel und die Kunstgegenstände, auf die drei Meter hohe Zimmerdecke mit der Stuckleiste, alles wies hin auf das Anwesen eines Multimillionärs. Und dann waren da noch diese lichtdichten Fensterblenden. Im Pentagon hatten sie sicher die gleichen. „Was ist das hier - das Hauptquartier eines Spionagerings der Regierung?“, lachte Dylan etwas nervös. „Sie werden mir doch nicht erzählen, dass Sie Mitglied einer kapitalkräftigen ausländischen Terrorzelle sind, oder?“
Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. „Nein.“
„Nein heißt, dass Sie's mir nicht sagen wollen oder dass Sie kein Terrorist sind?“
„Je weniger Sie wissen, desto besser, Dylan Alexander.“ Seine Mundwinkel kräuselten sich etwas, als er dies sagte, dann schüttelte er den Kopf. „Dylan. Was ist das für ein Name für eine Frau?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte die Schultern.
„Dafür kann ich nichts, dabei hatte ich nichts zu sagen. Ich entstamme einer langen Reihe von Hippies, Groupies und Ökofreaks.“ Er sah sie einfach nur an, die dunklen Augenbrauen senkten sich über seine Augen.
Offenbar verstand er nicht, wovon sie sprach. Die Anspielung schien völlig an ihm vorbeizugehen, als hätte er sich nie mit Popkultur beschäftigt, als hätte er vermutlich Besseres mit seiner Zeit zu tun. „Meine Mutter hat mich Dylan genannt nach - Sie wissen schon, Bob Dylan? Als ich geboren wurde, fand sie den ziemlich cool. Meine Brüder heißen auch nach Musikern: Morrison und Lennon.“
„Lächerlich“, erwiderte ihr Entführer und stieß ein verächtliches kleines Schnauben aus.
„Nun, es könnte schlimmer sein. Schließlich reden wir hier von den Mittsiebzigern. Ich hätte genauso Clapton oder Garfunkel heißen können.“
Er lachte nicht, sah sie nur weiter mit diesen topasfarbenen Augen unverwandt an. „Ein Name ist nichts, was man leichtfertig behandeln darf. Er prägt unsere Welt als Kind, und wir behalten ihn für immer. Ein Name sollte etwas bedeuten.“
Dylan warf ihm einen sardonischen Blick zu. „Und das sagt ausgerechnet einer, der Rio heißt? Ich habe gehört, wie Ihr deutscher Freund Sie so nannte“, fügte sie hinzu, als er sie mit schmalen Augen fixierte. „Auch nicht viel besser als Dylan, wenn Sie mich fragen.“
„Ich habe Sie nicht gefragt. Und das ist nicht mein Name. Nur ein kleiner Teil davon.“
„Wie lautet der Rest?“, fragte sie, nun ehrlich neugierig, und nicht nur, weil es vermutlich ratsam war, jedes bisschen an Information über ihren Entführer zu sammeln, das sie bekommen konnte.
Sie sah ihn an - sein vernarbtes, aber auf seine raue Art doch anziehendes Gesicht, den mächtigen Körper, der in diesen teuren neuen Kleidern steckte, und sie wollte mehr wissen. Sie wollte seinen Namen wissen und den Rest seiner Geheimnisse - und die, dessen war sie sich sicher, mussten zahlreich sein. Er war ein Rätsel, das sie lösen wollte, und sie musste zugeben, dass dieses Interesse nur sehr wenig zu tun hatte mit der Höhle, ihrer Story oder selbst ihrem eigenen Selbsterhaltungstrieb.
„Ich habe Ihre Daten und Ihre E-Mails durchgesehen“, sagte er und ignorierte ihre Frage, wie sie es schon vorausgesehen hatte. „Ich weiß, dass Sie die Fotos mehreren Personen geschickt haben, einschließlich Ihres Arbeitgebers.“ Mit ruhiger Stimme rasselte er die Namen ihres Chefs, von Janet, Marie, Nancy und ihrer Mutter herunter. „Ich bin sicher, dass wir sie ohne großen Aufwand lokalisieren können, aber es würde die Dinge doch beschleunigen, wenn Sie mir ihre aktuellen Adressen geben und mir sagen, wo sie beschäftigt sind.“
„Vergessen Sie's.“ Dylan war empört bei dem Gedanken, dass man einfach so in ihre Privatsphäre eingedrungen war. Auch wenn sie ihren Entführer unpassenderweise faszinierend fand - ihn oder seine zwielichtigen Kumpane würde sie mit Sicherheit nicht auf ihre Bekannten loslassen. „Wenn Sie ein Problem mit mir haben, in Ordnung. Aber denken Sie nicht, dass ich auch andere in diese Sache mit hineinziehe.“
Sein Gesicht war grimmig, und er verzog keine Miene. „Das haben Sie schon getan.“
Dylan fühlte eine Welle der Mutlosigkeit in sich aufsteigen. Er äußerte diese Bemerkung so ruhig, und doch klang sie wie eine Drohung. Als sie nichts weiter sagte, stand er aus dem zierlichen Stuhl auf. Gott, er war wirklich riesig, jeder Zentimeter von ihm durchdrungen von geschmeidigen, kraftvollen Muskeln.
„Jetzt, wo Sie wach sind“, sagte er, „werde ich Ihnen etwas zu essen besorgen.“
„Und mir Drogen ins Essen schmuggeln? Nein danke, da faste ich lieber.“
Er stieß ein kleines leises Lachen aus. „Ich bringe Ihnen etwas zu essen. Ob Sie es essen oder nicht, bleibt Ihnen überlassen.“
Dylan verwünschte ihren Magen, der beim Gedanken an Essen sofort gierig zu knurren begann. Sie wollte von diesem Mann oder seinen Komplizen nichts annehmen. Aber inzwischen war sie völlig ausgehungert und machte sich keine Illusionen - wenn er ihr eine Schüssel klumpigen, eiskalten Haferschleim brächte, würde sie selbst den dankbar verschlingen.
„Kommen Sie nicht auf den Gedanken, das Zimmer verlassen zu wollen“, fugte er hinzu. „Die Tür wird von außen abgeschlossen, und sobald Sie irgendwas versuchen, werde ich es sofort wissen. Ich denke, es ist Ihnen klar, dass Sie nicht weit kommen, bis ich Sie wieder eingefangen habe.“
Das wusste sie allerdings. Ein Teil ihres Selbst, ein reiner, animalischer Instinkt, wusste es. Sie war diesem Mann, wer auch immer er war, vollkommen ausgeliefert. Das passte Dylan nicht, aber sie war klug genug zu wissen, dass diese Sache, in die sie da hineingeraten war, tödlicher Ernst war. Wie die Frau in ihr konnte auch die Journalistin in ihr eine gewisse Faszination nicht abstreiten, ein Bedürfnis, mehr zu erfahren - nicht nur darüber, was hier wirklich vor sich ging, sondern auch über den Mann selbst.
Über Rio.
„Was ... ähm ... ist mit Ihnen passiert ... mit Ihrem Gesicht?“
Er warf ihr einen finsteren Blick zu, der besagte, dass von all ihren Fragen ihn diese am meisten verärgerte. Ihr entging nicht, dass er das Gesicht leicht nach links drehte, eine fast unbewusste Bewegung, die die schlimmsten Entstellungen etwas zu verbergen half. Aber Dylan hatte die Brandnarben und Wucherungen schon gesehen. So wie sie aussahen, musste es eine Kriegsverletzung sein. Eine sehr schwere, aus vorderster Front.
„Tut mir leid“, sagte sie, obwohl sie gar nicht so genau wusste, was sie damit meinte - dass es ihr leid tat, gefragt zu haben, oder das, was er durchgemacht hatte.
Er hob die linke Hand und fuhr sich durch das dichte Haar seiner Schläfe, als sei ihm jetzt egal, ob sie ihn anstarrte oder nicht. Aber es war zu spät für ihn, seinen ersten befangenen Reflex zurückzunehmen, und da konnte er sie jetzt noch so finster anstarren - Dylan wusste nun, dass ihm sein Aussehen zu schaffen machte.
Als er den Arm hob, erhaschte sie einen Blick auf ein kompliziertes Muster von Tätowierungen auf seinem Unterarm. Sie schauten auf beiden Armen unter seinen aufgerollten Hemdsärmeln hervor und wirkten wie Stammessymbole, in einer ungewöhnlichen Farbmischung von blassem Scharlachrot und Gold. Auf den ersten Blick dachte sie, dass sie vermutlich eine Art Mitgliedsabzeichen waren, wie die amerikanischen Straßengangs sie sich machen ließen, um ihre Zusammengehörigkeit zu zeigen.
Nein, das ist was anderes, entschied sie, je länger sie hinstarrte.
Das ist ganz was anderes.
Die Tätowierungen auf Rios Armen ähnelten sehr den Symbolen und seltsamen Schriftzeichen, die sie schon an den Wänden und dem steinernen Sarkophag in der Höhle gesehen hatte.
Er ließ die Hand sinken, und das warnende Aufblitzen seiner Augen forderte sie geradezu heraus, ihn zu fragen.
„Sagen Sie mir, was sie bedeuten“, sagte sie und sah hoch, geradewegs in seinen harten Blick. „Die Tattoos. Warum haben Sie dieselbe Art von Symbolen auf dem Körper wie die in dieser Höhle?“
Er antwortete nicht. Schweigend und unbeweglich stand er da, und in seinen zivilisierten, maßgeschneiderten Sachen wirkte er sogar hoch gefährlicher als in den zerschlissenen Lumpen, die er vorher getragen hatte. Sie wusste, dass er ein Hüne war, groß, breit, voller harter Muskeln, aber er wirkte noch größer, als sie sich ihm jetzt näherte, entschlossen, ihm eine Antwort zu entlocken.
„Was bedeuten diese Muster, Rio?“ Sie berührte seinen Arm.
„Sagen Sie's mir.“
Er starrte auf ihre Finger hinunter, die sich um seinen Arm geschlossen hatten. „Das geht Sie nichts an.“
„Und ob es das tut!“, erwiderte sie, ihre Stimme hob sich. „Wie können Sie die gleiche Art von Mustern auf dem Körper haben, wie sie in dieser Höhle - dieser Gruft - waren?“
„Sie irren sich. Sie wissen nicht, was Sie gesehen haben. Weder damals noch jetzt.“
Das war kein Argument, sondern vielmehr die komplette Weigerung, das Gespräch weiterzuführen. Und das machte Dylan nun ernsthaft wütend.
„Ich irre mich, was?“ Sie packte ihr langes offenes Haar und hob es auf die eine Seite ihres Halses. „Schauen Sie sich das mal an und sagen Sie mir dann, dass ich nicht weiß, was ich gesehen habe.“
Sie beugte den Kopf, sodass er volle Sicht auf ihren nackten Halsansatz und das Stückchen Haut hatte, auf dem ihr ungewöhnliches Muttermal war.
Die Stille schien sich endlos auszudehnen.
Dann schließlich zischte er einen Fluch.
„Was bedeutet das?“, fragte sie ihn, hob den Kopf und ließ ihr Haar wieder fallen.
Rio antwortete nicht. Er wich zurück, als wollte er keine weitere Sekunde mehr in ihrer Nähe sein.
„Sagen Sie's mir, Rio, bitte, was hat das alles zu bedeuten?“
Einen langen Augenblick schwieg er und starrte sie an, die dunklen Brauen tief über die Augen gesenkt.
„Das werden Sie bald genug erfahren“, sagte er leise, ging zur Tür und verließ das Zimmer.
Er schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Alleine und verwirrt blieb sie zurück und war sich auf einmal sehr sicher, dass sich der weitere Verlauf ihres Lebens nun unwiderruflich verändert hatte.